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Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert

Was hat das Grundgesetz stark gemacht – und warum reicht es heute nicht mehr? Eine nüchterne Bilanz zu Reformstau, politischer Zukunft und Demokratie.

75 Jahre Grundgesetz: Was funktioniert hat – und was wir endlich neu denken müssen


Was hat das Grundgesetz stark gemacht – und warum reicht es heute nicht mehr? Eine nüchterne Bilanz zu Reformstau, politischer Zukunft und Demokratie.

Manchmal hilft ein Schritt zurück. Weg vom täglichen Politikrauschen, hin zu den großen Linien. Nach 1949 hat das Grundgesetz geholfen, unser Land zu einem der stabilsten und erfolgreichsten demokratischen Modelle der Welt zu machen.

Aber Erfolg schützt nicht vor Alterung. Strukturen, die Jahrzehnte lang funktioniert haben, geraten an ihre Grenzen, wenn sich die Rahmenbedingungen verändern und die Institutionen Fehlsteuerungen verursachen.

Der Blick zurück zeigt, warum das so ist. Und der Blick nach vorn macht deutlich, warum „ein bisschen Reform“ nicht mehr reicht.


1. Warum das Grundgesetz eine Erfolgsgeschichte war

Bevor man modernisiert, muss man verstehen, was man bewahren sollte. Das Grundgesetz war die Antwort auf die Barbarei der Nazi-Herrschaft: Nie wieder Diktatur! Nie wieder Missachtung der Menschenwürde! Nie wieder Großmachtwahn!

Obwohl die Initiative für das Grundgesetz der neuen Bundesrepublik von den Alliierten ausging, ist es von der Bevölkerung nie als oktroyiert empfunden worden. Es griff bei vielen Regelungen auf freiheitlich-demokratische deutsche Traditionen zurück und ist über Jahrzehnte eigentlich von keiner relevanten politischen Strömung infrage gestellt worden. Der Grund für diesen breiten Konsens liegt darin, dass sich das Grundgesetz durch eine liberale Offenheit auszeichnet. Es ist offen für Konservative, für Sozialisten oder Liberale, die sich alle auf passende Regelungen des Grundgesetzes als Beleg berufen können.

Das Grundgesetz hat uns nach 1945 Freiheit, demokratische Regierungen, wirtschaftlichen Aufschwung und soziale Sicherheit gebracht. Es hat die europäische Einigung ermöglicht und Deutschland wieder zu einem angesehenen Mitglied der Weltgemeinschaft gemacht. Kein vernünftiger Mensch will das alles auf´s Spiel setzen!

1.1. Stabilität nach dem Zusammenbruch

Die Grundrechte und die freiheitlich-demokratische Grundordnung sind die Eckpfeiler des Grundgesetzes. Menschenwürde, Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatsprinzip und föderale Ordnung wurden mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet.

Aus den Erfahrungen der Weimarer Republik konzipierte man eine starke Kanzler-Demokratie: Verfassungsfeinde sollten eine Regierung nicht mehr paralysieren können, ohne selbst konstruktiv eine neue bilden zu können.

Verfassungsfeindliche Parteien konnten verboten werden – und wurden es auch.

1.2. Wirtschaftlicher Aufschwung und soziale Sicherung

Politische Stabilität und wirtschaftlicher Erfolg verstärkten sich gegenseitig. Das Grundgesetz gab den Rahmen. Die mutige Entscheidung zur sozialen Marktwirtschaft füllte ihn mit Leben.

1.3. Europäische Einbindung und friedliche Wiedervereinigung

Die Väter (und Mütter) des Grundgesetzes misstrauten dem Volk. Eine Verankerung in der westlichen Wertegemeinschaft und eine Übertragung von Souveränitätsrechten auf europäische Instanzen sollten und haben verhängnisvolle deutsche Sonderwege verhindert.

Schließlich ist festzuhalten, dass diese grundgesetzliche Ordnung so attraktiv war, dass sie im Zuge der Wiedervereinigung auf die neuen Bundesländer übertragen werden konnte.

Fazit: Mit den damals verantwortlichen Akteuren war das Grundgesetz über Jahrzehnte die richtige Antwort auf die gestellten Aufgaben.


2. Wo wir stehengeblieben sind: Das System hinkt der Realität hinterher

Und hier beginnt der Teil, den viele ungern hören. Deutschland hatte viele Jahrzehnte eine der stabilsten Demokratien. Aber kein System bleibt für immer passend. Ehemalige Volksparteien erodieren, die extremistischen Ränder erhalten massiven Zulauf, Koalitionen sind kaum noch handlungsfähig und das Wahlvolk zweifelt an der Problemlösungsfähigkeit der Regierenden. Behrendt schreibt in Die mandative Demokratie:

„Die Krise der Demokratie ist die Krise der parlamentarischen Demokratie.“

Damit meint er: Die Mechanik, nicht die Idee.

2.1. Institutionen und Verfassungswirklichkeit

Die Institutionen des Grundgesetzes sind nominell die selben geblieben, haben sich aber über die Jahrzehnte inhaltlich verändert. Bundestagsdebatten sind zur reinen Show degeneriert und richten sich nur noch an die mediale Öffentlichkeit. Kein Abgeordneter erwartet, dass er durch seine Rede einen Kollegen von der Opposition umstimmen könnte.

Der Bundestag ist nicht mehr die zentrale Instanz zur politischen Willensbildung. Kernaufgabe ist nur noch, die Koalitionsvereinbarung abzuarbeiten. Von den über 600 Mitgliedern des Bundestags haben maximal zwei Dutzend das Sagen und bringen alle übrigen durch den Fraktionszwang auf Linie.

Der Bundeskanzler kann die Regierungsmannschaft seines Vertrauens gar nicht mehr zusammenstellen. Die Koalitionspartner bestimmen, wer Minister wird. Und selbst in der eigenen Partei muss der Kanzler nach vielschichtigem Proporz auswählen.

Ein Großteil der Kompetenzen ist nach Brüssel abgewandert. Von dort kommen die Richtlinien, die nur noch in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Den Bedeutungsverlust kompensiert der Bundestag durch hektische Selbstbeschäftigung.

2.2. Das System produziert die Politiker, die das System bedienen

In den ersten Jahrzehnten des Grundgesetzes war ein Politikertyp noch selbstverständlich, der eigene Lebens- und Berufserfahrung außerhalb der Politik mitbrachte. Er kannte die Lebenswirklichkeit. Ein ziviler Beruf machte ihn wirtschaftlich unabhängig von der Partei.

Doch Institutionen sind nur ein Korsett. Es wird bestückt mit Personen, die am besten hinein passen. Und als erfolgreichster Typ hat sich im Laufe der Jahre der Berufspolitiker herausgestellt, der – überspitzt formuliert – die Karriere „Kreißsaal / Hörsaal / Plenarsaal“ absolvierte. Die Institutionen und ihre Auswahlmechanismen fördern Charaktere und Verhaltensweisen, die Politikerkarrieren dienen aber nicht notwendigerweise auch dem Gemeinwohl.

Diese Politikertyp wird das System, dem er seine Karriere verdankt, selbstverständlich pflegen und verteidigen.

2.3. Die Institutionen müssen den veränderten Verhältnissen angepasst werden

Wir können die Menschen nicht ändern, wohl aber die Institutionen. Politiker verhalten sich aus ihrer Sicht rational, wenn sie die für ihre Politikerkarriere erfolgversprechenden Entscheidungen treffen. Es wäre naiv, von einem Politiker etwas anderes zu erwarten. Dem Wähler sind aber Politikerkarrieren egal. Wir müssen deshalb die Institutionen so gestalten, dass das Eigeninteresse der Entscheider und das Gemeinwohl möglicht übereinstimmen oder zumindest nicht in Widerspruch geraten.

Ist das möglich? Das Modell der Mandative Demokratie versucht es jedenfalls.


3. Warum „ein bisschen Reform“ nicht mehr reicht

Alle sprechen von Reformen. Tatsächlich ist das Grundgesetz auch schon hunderte Male seit seiner Entstehung geändert worden. Der Zuschnitt der Institutionen und die Auswahlkriterien sind jedoch geblieben. Behrendt erklärt das nüchtern:

„Diejenigen, die systemändernde Reformen beschließen müssten, sind dieselben, die durch diese Reformen Macht verlieren würden.“

Es ist kein böser Wille. Es ist Mechanik. Deshalb greifen „kleine Reformen“ nicht. Sie reparieren Symptome – nicht Strukturen.


4. Und was heißt das jetzt?

Dieser Artikel soll nicht als Werbung für die „Mandative Demokratie“ missverstanden werden. Hier wird nichts verkauft: keine Ideen, keine Bücher. Aber er ist eine Einladung zu Reflexion und Diskussion.

Wir brauchen Antworten auf die Fragen:

  • Wie können wir die Politik- (oder besser: die Politiker-) verdrossenheit überwinden?
  • Wie verhelfen wir dem Wählerwillen zu seinem Recht: bei der Wahl selbst aber auch während der Legislaturperiode?
  • Wie stellen wir sicher, dass Politiker nicht in ihrer Blase den Kontakt zur Lebenswirklichkeit verlieren?
  • Wie ermöglichen wir längerfristige Perspektiven bei Haushaltsfinanzierung und Generationengerechtigkeit, bei Zuwanderung und Integration, bei den Sozialsystemen oder einer Wirtschaftspolitik, die zukunftsträchtige Technologien fördert?
  • Welche Institutionen müssen dazu und wie reformiert werden?

Die Mandative Demokratie versucht eine Antwort zu geben. Sie nimmt nicht für sich in Anspruch, die perfekte Lösung gefunden zu haben. Es geht darum, in Diskussionen auf breiter Ebene Problembewusstsein zu schärfen und Lösungsvorschläge auf ihre Qualität zu prüfen.

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